Die deutsche Neonazi-Szene wird immer größer Von Falk Hornuß
Ein wesentliches Symptom für die Degenerierung einer Gesellschaft ist es, wenn die Zahl der Radikalen massiv ansteigt. Dies gilt für die Linke wie die Rechte gemeinsam. Die klassischen linken Randgruppen sind dabei im vergangenen Jahr weitgehend in der Zahl stabil geblieben. Sekten bleiben eben Sekten. Die sinkende Zahl der PDS-Mitglieder ist dabei eher durch die zunehmende Sozialdemokratisierung der Partei und den biologischen Abgang der überalterten Mitglieder bestimmt, als durch ein stabiles kapitalistisches System. Bei der Rechten ist die ganze Entwicklung etwas anders. Die Experten bei Verfassungsschutz und Polizei sind daher stark beunruhigt.
Zu den Wahlerfolgen der NPD in Sachsen und der DVU in Brandenburg kommt nun nämlich auch noch das rapide Wachstum der Neonazi-Szene hinzu, das vor allem den Osten betrifft. Gleichzeitig wird eine Professionalisierung des harten Kerns der Neonazis beobachtet. Sie führen „zunehmend Kampagnen mit aktuell- oder auch lokalpolitischem Bezug, die auf gesteigerte soziale Akzeptanz zu stoßen scheinen“, sagte dazu der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Gottfried Timm (SPD). Sie gründen zunehmend Bürgerinitiativen mit unverfänglichen Namen wie „Schöner Wohnen“, organisieren Kinderfeste, kümmern sich um sozial Schwache, versuchen seriöse Schülerzeitungen zu betreiben und investieren gezielt in Immobilien, um stabile Stützpunkte aufzubauen.
Die Zahl der sogenannten Neonazis in Deutschland ist unterdessen im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Es sei eine Zunahme um 800 auf nun 3800 zu verzeichnen gewesen, berichteten Sicherheitsexperten dem liberalen Tagesspiegel. Damit hat sich die Ausbreitung des braunen Milieus wieder beschleunigt. Im Jahr 2002 stellten die Behörden lediglich 2600 Neonazis fest, 2003 waren es dann bereits 3000. Von dem aktuellen Zuwachs auf 3800 sind besonders Berlin und Brandenburg betroffen. In Berlin stieg die Zahl der Neonazis auf 950 (2003: 750), in Brandenburg auf 300 (220). Die Verfestigung der Neonazi-Szene, auch ideologisch, ist angeblich vor allem ein Problem des Ostens und Berlins, so Experten. Kein Wunder bei der besonders angespannten sozialen Lage vieler Ostdeutscher.
Das Wachstum der Szene hat sich jedoch erstaunlicherweise nicht in einer Zunahme der freien Neonazi-Kameradschaften niedergeschlagen. Bundesweit gibt es weiter etwa 160, deren Attraktivität allerdings durch große Aufmärsche und andere Provokationen wächst. Im Westen haben die Kameradschaften dabei eher Freizeitcharakter. Da wo sich der Staat und die bürgerlichen Parteien vor Ort aus jeder Tätigkeit zurückziehen, da prägen eben Kameradschaften, NPD und PDS das öffentliche Leben. Den Ostdeutschen ist nämlich noch der Gemeinschaftsgedanke lieb und teuer. Sehr verbreitet ist im Osten der Bundesrepublik nämlich noch die Sehnsucht nach einer festgefügten Gesellschaft, in der man nicht ständig um seine Arbeit und seine Kultur kämpfen muß.
Die freien Kameradschaften als Hauptträger der gesellschaftlichen Arbeit sind informelle Zusammenschlüsse von jungen Rechtsextremen unter Namen wie Autonome Nationalisten Berlin oder Kameradschaft Tor Berlin. Auch die Berliner Alternative Südost (BASO) des Rene Bethage und der Märkische Heimatschutz des Gordon Reinholz sind hier besonders aktiv. Der Kampfbund Deutscher Sozialisten (KDS), dessen Berliner Bezirkschef Michael Koth aus dem kommunistischen Milieu um SEW und KPD (-Ost) stammt und irgendwie immer noch Kommunist ist, bildet da gewissermaßen eine Ausnahme. Im KDS versucht man teilweise neben der normalen Kampagenarbeit Erkenntnisse des wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus auf die heutige Zeit anzuwenden. Die Angehörigen dieser Kameradschaften sind im Durchschnitt 21 bis 24 Jahre alt, während Mitglieder rechtsextremistischer Parteien im Schnitt 45 Jahre alt sind.
Auch das Potential der eher subkulturell geprägten gewaltbereiten Rechtsextremisten, also vor allem die Skinheads, blieb mit etwa 10.000 Personen unverändert hoch. Es sei nach Ansicht vieler Experten besorgniserregend, daß zunehmend junge Ersttäter diejenigen Skinheads ersetzten, die bisher nach zwei Jahren ohne größere Auffälligkeiten aus der Statistik herausgenommen werden. Außerdem ist verstärkt zu beobachten, daß Neonazis, Nationalbolschewisten und rechte Skinheads sogenannte „Mischszenen“ bilden.